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BFH-Urteil vom 11.2.2010 (VI R 61/08) BStBl. 2010 II S. 621
Zwangsläufigkeit von Aufwendungen für behindertes Kind bei Unzumutbarkeit
des Einsatzes eigenen Vermögens
1.
Unterhaltsaufwendungen sind nur dann zwangsläufig, wenn die unterhaltene
Person außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Grundsätzlich ist das
volljährige Kind verpflichtet, seinen Vermögensstamm im Rahmen des
Zumutbaren zu verwerten, bevor es seine Eltern auf Unterhalt in Anspruch
nimmt.
2.
Ein schwerbehindertes Kind, das angesichts der Schwere und der Dauer seiner
Erkrankung seinen Grundbedarf und behinderungsbedingten Mehrbedarf nicht
selbst zu decken in der Lage ist, darf zur Altersvorsorge maßvoll Vermögen
bilden (Anschluss an BFH-Urteil vom 30. Oktober 2008 III R 97/06, BFH/NV
2009, 728).
3.
Die das eigene Vermögen des Unterhaltsempfängers betreffende Bestimmung des
§ 33a Abs. 1 Satz 3 EStG kommt im Rahmen des § 33 EStG nicht eigens zur
Anwendung.
4.
Im Fall der Übertragung des Behinderten-Pauschbetrags kann der
Steuerpflichtige Aufwendungen für sein behindertes Kind gemäß § 33 EStG
zusätzlich abziehen.
EStG § 33, § 33a Abs. 1 Satz 3, § 33b; BGB
§ 1601, § 1602.
Vorinstanz: FG Schleswig-Holstein vom 22.
Mai 2008 1 K 50225/04 (EFG 2008, 1710)
Sachverhalt
I.
1
Die zusammen zur
Einkommensteuer veranlagte Klägerin und Revisionsklägerin und der inzwischen
verstorbene Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielten im Streitjahr
(1998) Einkünfte aus Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit. Der
Gesamtbetrag der Einkünfte belief sich auf 663.618 DM. Die 1975 geborene
Tochter A leidet an Down-Syndrom. Ihr Schwerbehindertenausweis ist mit dem
Merkmal "H" gekennzeichnet. A war im Streitjahr in einer
sozialtherapeutischen Hofgemeinschaft untergebracht und ging in einer
angeschlossenen Behindertenwerkstatt einer Tätigkeit nach. Sie wurde im
Streitjahr bei den Klägern gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) berücksichtigt.
2
A ist Eigentümerin eines ihr
1993 vom Großvater geschenkten Mehrfamilienhauses in B. Sie erzielte im
Streitjahr aus der Vermietung dieses Objekts negative Einkünfte in Höhe von
10.486 DM.
3
Die Kläger machten im
Streitjahr Aufwendungen für die Unterbringung und den Werkstattbesuch ihrer
Tochter als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG geltend. Sie
bezifferten die Kosten nach Abzug von vereinnahmtem Pflegegeld und
Verpflegungsaufwendungen auf 77.114 DM. Der Beklagte und Revisionsbeklagte
(das Finanzamt - FA -) berücksichtigte die Aufwendungen nicht. Das FA ließ
jedoch den Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 3 EStG) und den
Pflege-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 6 EStG) zum Abzug zu.
4
Das Finanzgericht (FG) wies
die Klage ab (Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 1710). Es führte u.a.
aus, dass Aufwendungen von Eltern erwachsener behinderter Menschen in
vollstationärer Heimunterbringung grundsätzlich eine außergewöhnliche
Belastung seien. Im Streitfall bestehe jedoch die Besonderheit, dass A über
ein nicht unerhebliches Vermögen - ein Mehrfamilienhaus - verfüge. Deshalb
komme eine steuerliche Berücksichtigung der Aufwendungen nicht in Betracht.
Dies sei in § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG ausdrücklich normiert, gelte aber auch
in den Fällen des § 33 EStG.
5
Die Kläger beantragen
sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und den
Einkommensteuerbescheid dahingehend zu ändern, dass 77.114 DM, hilfsweise
73.176 DM, als außergewöhnliche Belastungen abgezogen werden.
6
Das FA beantragt, die
Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
7
Die Revision der Kläger ist begründet; das
angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Sache zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1
Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG hat die
Unterstützungsleistungen der Kläger für ihre Tochter zu Unrecht vom Abzug
als außergewöhnliche Belastungen ausgeschlossen.
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1. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die
Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen
zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der
Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher
Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen
(außergewöhnliche Belastungen). Aufwendungen sind außergewöhnlich, wenn sie
nicht nur ihrer Höhe, sondern auch ihrer Art und dem Grunde nach außerhalb
des Üblichen liegen. Aufwendungen erwachsen einem Steuerpflichtigen
zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder
sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit sie den Umständen nach
notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2
EStG).
9
2. Im Streitfall sind den Klägern die
Aufwendungen für die Heimunterbringung der Tochter aus rechtlichen Gründen
zwangsläufig erwachsen.
10
a) Die Kläger hatten ihrer Tochter
angemessenen Unterhalt zu leisten (§§ 1601, 1610 Abs. 1 des Bürgerlichen
Gesetzbuchs i.d.F. des Streitjahres - BGB -). Ihr von den Klägern
aufzubringender Lebensbedarf umfasste auch den behinderungsbedingten
Mehrbedarf (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 30. Oktober 2008 III R
97/06, BFH/NV 2009, 728, m.w.N; s. auch BFH-Urteil vom 23. Mai 2002 III R
24/01, BFHE 199, 296, BStBl II 2002, 567).
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b) Unterhaltsaufwendungen sind nur dann
zwangsläufig, wenn die unterhaltene Person außerstande ist, sich selbst zu
unterhalten (§ 1602 Abs. 1 BGB; BFH-Urteil vom 14. August 1997 III R 68/96,
BFHE 184, 315, BStBl II 1998, 241). Diese Voraussetzung ist im Streitfall
gegeben. A war im Streitfall nicht verpflichtet, den Stamm ihres Vermögens
einzusetzen.
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Ein volljähriges Kind ist grundsätzlich
verpflichtet, vorrangig seinen Vermögensstamm zu verwerten, bevor es seine
Eltern auf Unterhalt in Anspruch nimmt. Dies folgt im Umkehrschluss aus §
1602 Abs. 2 BGB. Der Grundsatz kommt jedoch nicht zur Anwendung, wenn die
Vermögensverwertung im Einzelfall unzumutbar ist. Inwieweit das Vermögen
einzusetzen ist, muss daher jeweils aufgrund einer Zumutbarkeitsabwägung
unter Berücksichtigung aller bedeutsamen Umstände und insbesondere auch der
Lage der Unterhaltsverpflichteten entschieden werden (Urteil des
Bundesgerichtshofs vom 5. November 1997 XII ZR 20/96, Neue Juristische
Wochenschrift - NJW - 1998, 978; Urteil des Oberlandesgerichts - OLG - Hamm
vom 11. August 200611 UF 25/06, NJW 2007, 1217; BFH-Urteil in BFH/NV 2009,
728; MünchKommBGB/ Born, 5. Aufl., § 1602 Rz 58). Nach diesen Grundsätzen
dürfen schwerbehinderte volljährige Kinder, die ihren angemessenen Bedarf
nicht selbst decken können und bei denen ungewiss ist, ob ihr
Unterhaltsbedarf im Alter durch Unterhaltsleistungen der Eltern gedeckt
werden kann, maßvoll Vermögen bilden; eine als Altersvorsorge dienende
vermietete Eigentumswohnung braucht deshalb nicht vor der Inanspruchnahme
elterlichen Unterhalts verwertet zu werden (Urteil des OLG Karlsruhe vom 10.
November 19992 UF 229/98, Zeitschrift für das Familienrecht 2001, 47).
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Nach diesen Grundsätzen konnte auch der
schwerbehinderten Tochter der Kläger die Veräußerung des Grundstücks nicht
zugemutet werden, da sie hierauf zur Altersvorsorge und zur Abdeckung ihres
weiteren lebenslangen behinderungsbedingten Mehrbedarfs angewiesen war (s.
BFH-Urteil in BFH/NV 2009, 728). Da ungewiss ist, ob und gegebenenfalls in
welchem Umfang A mit zunehmendem Alter ihren Grundbedarf und vor allem den
behinderungsbedingten Mehrbedarf durch Unterhaltsleistungen der Kläger wird
decken können, war eine Altersvorsorge zu treffen. Diese Vorsorge ist
angesichts der Schwere und der Dauer der Krankheit maßvoll ausgefallen. Mit
den Vermögenserträgnissen kann der durch die Behinderung bedingte Bedarf im
Alter wenigstens teilweise gedeckt werden. Da andererseits nach den
Feststellungen des FG wegen des außerordentlich hohen Unterhaltsbedarfs der
A bei Verwertung des Grundstücks "der Veräußerungserlös schnell verbraucht
wäre", wäre es unbillig, von A zu verlangen, den Stamm ihres Vermögens
anzugreifen.
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c) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz
kommt die das eigene Vermögen des Unterhaltsempfängers betreffende
Bestimmung des § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG im Rahmen des § 33 EStG nicht
ergänzend zur Anwendung. § 33a EStG stellt gegenüber der allgemeinen
Regelung des § 33 EStG eine Sondervorschrift dar. Das bedeutet auch, dass
die in § 33a EStG enthaltenen Sonderbestimmungen nicht auf die
Generalklausel des § 33 EStG ausgedehnt werden dürfen (Kanzler in
Herrmann/Heuer/Raupach - HHR -, § 33a EStG Rz 10).
15
3. Die Vorentscheidung beruht auf einer
anderen Rechtsauffassung und ist daher aufzuheben. Der Senat kann jedoch
nicht durcherkennen, da die Sache nicht spruchreif ist. Von seinem
Standpunkt aus zu Recht hat das FG keine Feststellungen zur Höhe der nach §
33 EStG abziehbaren Aufwendungen gemacht. Zum Verhältnis dieser Aufwendungen
zum Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 3 EStG) wird darauf hingewiesen,
dass im Fall der Übertragung dieses Pauschbetrags (§ 33b Abs. 5 EStG) der
Steuerpflichtige Aufwendungen für sein behindertes Kind zusätzlich abziehen
kann, weil der Pauschbetrag nur Aufwendungen des Kindes abgilt (HHR/Kanzler,
§ 33b EStG Rz 80). Im Übrigen wird § 33 Abs. 3 EStG zu beachten sein.
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