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BFH-Urteil vom 17.12.2009 (III R 74/07) BStBl. 2010 II S. 552
Kindergeld: Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung als
Bezug des Kindes
Entstehen dem Kind als Folge eines Unfalls Aufwendungen zur Heilung einer
gesundheitlichen Beeinträchtigung, die von der gesetzlichen
Unfallversicherung nicht erstattet werden, ist die als Bezug anzusetzende
Verletztenrente um diese Aufwendungen zu mindern.
EStG § 32 Abs. 4 Satz 2.
Vorinstanz: FG Hamburg vom 7. August 2007
1 K 15/05 (EFG 2008, 222)
Sachverhalt
I.
1
Der Kläger und
Revisionsbeklagte (Kläger) bezog für seine im Jahr 1983 geborene Tochter (T)
Kindergeld. T erlitt im November 2001 auf dem Schulweg einen schweren
Unfall, den der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung
(Landesunfallkasse) als Arbeitsunfall anerkannte. Nachdem die Verletzungen
verheilt waren und T wieder die Schule besuchte, trat bei ihr etwa ein Jahr
nach dem Unfall als Folge der schweren Verletzungen eine erhebliche
depressive Reaktion auf, die dazu führte, dass T den Anforderungen in der
Schule nicht mehr gewachsen war. Die Psychologin, bei der T
psychotherapeutisch behandelt wurde, regte zur Stärkung des
Selbstbewusstseins und der Selbständigkeit von T einen Aufenthalt im Ausland
an. T entschied sich für einen - von dem Anbieter (A) organisierten -
Aufenthalt in Schottland von April bis August 2003. Soweit der
Schottlandaufenthalt in die Schulzeit fiel, wurde T von der Schule
beurlaubt. Der Zeitraum der Beurlaubung betrug weniger als vier Monate.
Durch den Auslandsaufenthalt verlor T insgesamt ein Schuljahr und konnte ihr
Abitur erst im Jahr 2004 - statt wie geplant im Jahr 2003 - ablegen.
2
Während ihres Aufenthalts in
Schottland arbeitete T als Kellnerin und erzielte hieraus Einnahmen in Höhe
von 573,58 €. Die im Zusammenhang mit dem Aufenthalt in Schottland
entstandenen Kosten in Höhe von 4.035 € (Organisation durch A 700 €, Wohnung
1.260 €, Verpflegungsmehraufwand 1.575 €, Flug 500 €) erstattete die
Landesunfallkasse nicht, weil derartige Kosten im Leistungskatalog der
gesetzlichen Unfallversicherung (Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VII -)
nicht vorgesehen seien.
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Da T durch den Unfall in
ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert war, setzte die Landesunfallkasse durch
Bescheid vom 25. November 2003 eine am 15. November 2001 beginnende Rente
als vorläufige Entschädigung fest und zahlte T im Jahr 2003 insgesamt
10.047,35 € aus. Hiervon entfielen 5.531,09 € auf die Jahre 2001 und 2002
und 4.516,26 € auf das Jahr 2003.
4
Die Beklagte und
Revisionsklägerin (Familienkasse) hob die Festsetzung des Kindergeldes für T
durch Bescheid vom 16. Juni 2004 für die Monate Januar bis Dezember 2003
auf, weil die Einkünfte und Bezüge von T aufgrund der Rentennachzahlung den
Jahresgrenzbetrag von 7.188 € überschritten. Der Einspruch des Klägers blieb
erfolglos.
5
Das Finanzgericht (FG) hob
den Aufhebungsbescheid und die Einspruchsentscheidung durch Urteil vom
7. August 2007 1 K 15/05 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 222) auf.
Die Kosten in Höhe von 4.035 € für den Schottland-Aufenthalt, der laut
ärztlichem Gutachten vom März 2007 zur Genesung von T erforderlich gewesen
sei, seien dem Jahresgrenzbetrag von 7.188 € hinzuzurechnen, weil T aufgrund
des Unfalls einen über den allgemeinen Grundbedarf hinausgehenden
zusätzlichen Bedarf gehabt habe. Die als Bezug zu behandelnde
Rentennachzahlung in Höhe von 10.047,35 € liege unter diesem erhöhten
Jahresgrenzbetrag. Auch ohne Erhöhung sei der Jahresgrenzbetrag aber nicht
überschritten. Denn die Rentennachzahlung habe in Höhe der unfallbedingten
Aufwendungen für den normalen Lebensunterhalt nicht zur Verfügung gestanden.
Deshalb seien nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom
11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260)
die Kosten für den Schottlandaufenthalt von der Rentennachzahlung
abzuziehen, so dass die Bezüge unterhalb des Jahresgrenzbetrags von 7.188 €
lägen.
6
Gegen die vom Kläger im
Einzelnen dargelegten Kosten für den Schottlandaufenthalt bestünden der Höhe
nach keine Bedenken. Die Familienkasse habe trotz Nachfrage nicht erklärt,
welche der vom Kläger geltend gemachten Kosten sie bestreite.
7
Die in Großbritannien zu
versteuernden und in Deutschland dem Progressionsvorbehalt unterliegenden
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit als Kellnerin seien nicht
anzusetzen, da der Arbeitnehmerpauschbetrag in Höhe von 1.044 € (§ 9a des
Einkommensteuergesetzes i.d.F. für das Streitjahr 2003 - EStG -) die
Einnahmen in Höhe von 573,58 € übersteige.
8
Mit ihrer Revision rügt die
Familienkasse eine Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Außerdem seien
die geltend gemachten Kosten nicht ausreichend nachgewiesen worden.
9
Sie beantragt, das Urteil
des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
10
Der Kläger beantragt, die
Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
11
Die Revision ist unbegründet und deshalb
zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
12
Nach im Ergebnis zutreffender Auffassung
des FG übersteigen die Einkünfte und Bezüge von T den maßgebenden
Jahresgrenzbetrag nicht.
13
1. Unter weiteren - hier nicht streitigen -
Voraussetzungen hat der Kindergeldberechtigte Anspruch auf Kindergeld für
ein volljähriges Kind, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des
Unterhalts und der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht
mehr als 7.188 € im Kalenderjahr 2003 hat (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG).
14
2. Die nach § 3 Nr. 1 Buchst. a EStG
steuerfreie sog. Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung
gehört nicht zu den Einkünften, sondern in vollem Umfang zu den Bezügen
(Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 15. Oktober 1999 VI R 182/98, BFHE
189, 457, BStBl II 2000, 79, unter II. 4. c), da hierunter alle Zuflüsse in
Geld oder Naturalleistungen fallen, die nicht im Rahmen der
einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden, also nicht
steuerbare oder für steuerfrei erklärte Einnahmen (BFH-Urteil vom
26. September 2000 VI R 85/99, BFHE 192, 485, BStBl II 2000, 684, unter 2.
b, m.w.N.).
15
3. Die Nachzahlung der Verletztenrente ist
im Jahr 2003, in dem sie zugeflossen ist, zu berücksichtigen. Der Betrag ist
nicht auf den Zeitraum zu verteilen, für den er gezahlt wurde (BFH-Urteil
vom 16. April 2002 VIII R 76/01, BFHE 199, 116, BStBl II 2002, 525).
16
4. Die Verletztenrente ist jedoch nur
soweit zur Bestreitung des Unterhalts von T bestimmt oder geeignet, als sie
die Aufwendungen für therapeutische Maßnahmen übersteigt, die T als Folge
des Unfalls entstanden sind.
17
a) Der Senat hat im Urteil vom
26. September 2007 III R 4/07 (BFHE 219, 112, BStBl II 2008, 738, unter II.
8., betr. ansetzbare Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit) offen
gelassen, ob und inwieweit Krankheits- oder Krankheitsfolgekosten zu den
nach der Rechtsprechung des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage
3, 260 unvermeidbaren, die Einkünfte und Bezüge des Kindes mindernden
Aufwendungen gehören können. Auch im Streitfall braucht diese Frage nicht
entschieden zu werden, da sich der geminderte Ansatz der Rentennachzahlung
allein aus der Zweckbestimmung der Verletztenrente ergibt.
18
b) Grundsätzlich übernimmt die gesetzliche
Unfallversicherung die Kosten für die Heilbehandlung und für
Rehabilitationsmaßnahmen des Schülers, der auf dem Schulweg einen
schwerwiegenden Unfall erlitten hat. Nur wenn der Schüler durch den Unfall
trotz der Rehabilitationsmaßnahmen in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist,
erhält er eine Rente. Diese wird in der Regel erst bezahlt, wenn alle
sinnvollen und zumutbaren Rehabilitationsmöglichkeiten ausgeschöpft sind
(vgl. § 26 Abs. 3 SGB VII; Becker, Gesetzliche Unfallversicherung, 1. Aufl.
2004, S. 156). Die Verletztenrente soll den Mehrbedarf durch die bleibenden
Verletzungen aufgrund des Unfalls und den Einnahmenverlust aufgrund der
geminderten Erwerbsfähigkeit ausgleichen (Urteil des Bundessozialgerichts -
BSG - vom 19. Juni 1986 12 RK 7/85, SozR 2200 § 180 Nr. 31; Mucha in Jahn
SGB VII § 56 Rz 4, 12; a.A. - nur Lohnersatzfunktion - möglicherweise
BFH-Urteil in BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79, unter II. 4. c).
19
c) Aus den unterschiedlichen Funktionen der
Verletztenrente hat das BSG gefolgert, dass diese bei der Bemessung für den
Beitrag einer Ersatzkasse, der sich nach den "Einnahmen zum Lebensunterhalt"
richtet (BSG in SozR 2200 § 180 Nr. 31), und bei der Entscheidung, ob wegen
des niedrigen Einkommens eine Befreiung von Zuzahlungen nach § 61 SGB V bei
der gesetzlichen Krankenversicherung in Betracht kommt (BSG-Urteil vom
8. Dezember 1992 1 RK 11/92, BSGE 71, 299), nur angerechnet werden darf,
soweit sie Einkommensersatzfunktion hat.
20
d) Andererseits ist die Verletztenrente aus
der gesetzlichen Unfallversicherung bei der Berechnung der Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach der Rechtsprechung des BSG insgesamt als
Einkommen i.S. des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu berücksichtigen. Sie ist in
vollem Umfang keine zweckbestimmte Einnahme i.S. des § 11 Abs. 3 Nr. 1
Buchst. a SGB II, die als Einkommen außer Betracht bleibt (BSG-Urteil vom
5. September 2007 B 11b AS 15/06 R, BSGE 99, 47, m.w.N.). Nach Auffassung
des BSG bleiben nach § 11 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a SGB II nur solche Einnahmen
außer Betracht, deren Zweck sich ausdrücklich aus der gesetzlichen
Vorschrift ergibt. §§ 56 ff. SGB VII regelten aber nur Beginn, Dauer, Höhe
und Berechnungsmodalitäten der Verletztenrente. Eine ausdrückliche und
eindeutige Zweckbestimmung lasse sich aus diesen Vorschriften nicht ablesen.
Die Verletztenrente habe zwar unterschiedliche Funktionen
(Mehrbedarfsersatz, Kompensation immaterieller Schäden, Einkommensersatz),
diese seien aber nicht einer "Zweckbestimmung" i.S. des § 11 Abs. 3 Nr. 1
Buchst. a SGB II gleich zu achten.
21
e) Bei der Berechnung der Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach § 11 SGB II werden alle Einnahmen in
Geld oder Geldeswert angerechnet, die nicht ausdrücklich für einen anderen
Zweck als den Lebensunterhalt bestimmt sind. Nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
sind dagegen nur Einkünfte und Bezüge anzusetzen, die für den Unterhalt
bestimmt oder geeignet sind. Wird eine als Bezug zu berücksichtigende
steuerfreie Rente gezahlt, ist daher zu prüfen, welchem Zweck die Rente
dient. Allein daraus, dass in den gesetzlichen Regelungen der Zweck der
Rente nicht ausdrücklich bestimmt wird, ist nicht zu folgern, dass die
Zahlungen ausschließlich für den Lebensunterhalt bestimmt sind.
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f) Für das Kindergeld wird ein Kind dann
nicht mehr berücksichtigt, wenn es eigene Einkünfte und Bezüge in Höhe des -
am Existenzminimum eines Erwachsenen ausgerichteten - Jahresgrenzbetrages
hat. Der Gesetzgeber unterstellt, dass die Eltern in diesen Fällen nicht
mehr durch Aufwendungen für den Unterhalt des Kindes belastet sind.
Entstehen dem Kind aber Kosten für Maßnahmen zur Behebung von körperlichen
oder psychischen Schäden aufgrund eines Unfalls, für die nach den Regelungen
der gesetzlichen Unfallversicherung keine Erstattung vorgesehen ist, steht
die Verletztenrente dem Kind insoweit nicht für den Unterhalt zur Verfügung.
Da die Verletztenrente auch gezahlt wird, um den aufgrund des Unfalls
entstehenden Mehrbedarf auszugleichen, ist sie nur zum Unterhalt und zur
Berufsausbildung bestimmt oder geeignet, soweit die Rentenzahlungen die
Kosten übersteigen, die zur Wiederherstellung der durch den Unfall
verursachten gesundheitlichen Schäden angefallen sind.
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5. Die Entscheidung des FG, dass der
Auslandsaufenthalt geeignet war, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen von
T zu bessern, und dass die vom Kläger geltend gemachten Aufwendungen
tatsächlich entstanden sind und auch erforderlich waren, ist
revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
24
In dem im finanzgerichtlichen Verfahren
eingeholten ärztlichen Gutachten zur Erforderlichkeit des
Auslandsaufenthalts für die medizinische Behandlung von T kommt der
Gutachter zu dem Ergebnis, dass der von der Psychotherapeutin als Therapie
für die posttraumatische Belastungsstörung empfohlene Auslandsaufenthalt eng
mit dem Erfolg der medizinisch-psychotherapeutischen Behandlung
zusammenhängt und daher als erforderlich anzusehen ist.
25
Nach Auffassung des FG bestehen keine
Zweifel daran, dass die vom Kläger dargelegten Aufwendungen in Höhe von
4.035 € (Organisation durch A 700 €, Wohnung 1.260 €,
Verpflegungsmehraufwand 1.575 €, Flug 500 €) entstanden und notwendig
gewesen sind. Die Familienkasse hat nicht konkret dargelegt, welche Kosten
sie im Einzelnen anzweifelt. Als Revisionsgericht ist der BFH an die
nachvollziehbare Würdigung des FG gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO). Es bestanden
auch keine Erstattungsmöglichkeiten durch die Landesunfallkasse, so dass T
bzw. der zu ihrem Unterhalt verpflichtete Kläger mit diesen Kosten endgültig
belastet blieb.
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