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  BFH-Urteil vom 24.11.1993 (X R 49/90) BStBl. 1994 II S. 591

1. Bei Wertpapieren eines Sammeldepots ist dem Nämlichkeitserfordernis i. S. des § 23 EStG genügt, wenn die angeschafften und veräußerten Wertpapiere der Art und der Stückzahl nach identisch sind.

2. In solchen Fällen ist die Sechsmonatsfrist des § 23 Abs. 1 Nr. 1 b EStG nur gewahrt, wenn (der Art und der Stückzahl nach) ausgeschlossen werden kann, daß die veräußerten Wertpapiere außerhalb dieser Frist erworben wurden. Lifo- und Fifo-Verfahren sind im Rahmen des § 23 Abs. 1 Nr. 1 b EStG unanwendbar. Soweit Spekulationsgeschäfte vorliegen, sind die Anschaffungskosten nach Durchschnittswerten zu ermitteln.

AO 1977 §§ 38, 39, 162; FGO §§ 76, 96, 100 Abs. 2; EStG § 23; DepotG §§ 5, 6.

Vorinstanz: Niedersächsisches FG (EFG 1990, 352)

Sachverhalt

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hat im Streitjahr 1985 (wie in den Vorjahren auch) mehrere umfangreiche Wertpapieran- und -verkäufe getätigt. Diese Wertpapiere wurden, zusammen mit im Jahre 1985 ererbten Papieren, in einem seit 1980 unterhaltenen Girosammeldepot verwahrt.

Aus den Wertbewegungen im Depot des Klägers ermittelte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) im Anschluß an eine Außenprüfung für 1985 Spekulationsgewinne des Klägers in Höhe von (abgerundet) 64.085 DM, indem er für die Berechnung der Sechsmonatsfrist des § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b des Einkommensteuergesetzes (EStG) jeweils unterstellte, die zuletzt angeschafften Wertpapiere seien zuerst veräußert worden ("last in, first out" - "Lifo-Methode"). Der Kläger stellte sich demgegenüber auf den Standpunkt, nach der in solchen Fällen einschlägigen "Fifo-Methode" ("first in, first out") sei davon auszugehen, daß die zuerst angeschafften Wertpapiere zuerst veräußert worden und die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Besteuerung nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG nur in Höhe eines Gewinns von 47.576 DM erfüllt seien.

Der Einspruch blieb erfolglos. Der Klage gab das Finanzgericht (FG) mit der Begründung statt, für die Inanspruchnahme des Klägers in Höhe der streitigen 16.509 DM fehle die Rechtsgrundlage, weil das FA insoweit nicht habe nachweisen können, daß innerhalb der Sechsmonatsfrist dieselben Wertpapiere angeschafft und veräußert worden seien. Wegen der Urteilsbegründung im übrigen wird auf die Veröffentlichung in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1990, 352 Bezug genommen.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG. Es ist unter Berufung auf das Urteil des Reichsfinanzhofs (RFH) vom 13. Juni 1928 VI A 593/28 (RStBl 1928, 328) der Meinung, der Identitätsnachweis gelte nicht bei Wertpapierverwahrung in einem Sammeldepot, denn sonst könnten in solchen Fällen durch An- und Verkäufe innerhalb der gesetzlichen Frist erzielte Gewinne immer dann nicht erfaßt werden, wenn ein genügend hoher Bestand von außerhalb der Frist angeschafften Papieren vorhanden sei.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) ist dem Verfahren beigetreten. Es hat sich schriftlich im Sinne der Revisionsbegründung geäußert, an der mündlichen Verhandlung hat es nicht teilgenommen.

Der aus nicht im Streit befindlichen Gründen ergangene Änderungsbescheid vom 24. April 1991 ist zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden.

Entscheidungsgründe

I. Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Zwar ist dessen Rechtsansicht im wesentlichen beizupflichten, doch steht für den Senat nicht mit der erforderlichen Sicherheit fest, ob die Vorgaben des FG für die Steuerfestsetzung durch das FA (nach Art. 3 § 4 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit - VGFGEntlG -; jetzt § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO n. F.) zutreffen.

1) Zu Recht hat es die Vorinstanz abgelehnt, die Sechsmonatsfrist des § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG nach der "Lifo-Methode" zu bestimmen. Nach dieser Vorschrift sind bei Wertpapieren Spekulationsgeschäfte, die zu sonstigen Einkünften (§ 2 Abs. 1 Nr. 7, § 22 Abs. 1 Nr. 2 EStG) führen, dann gegeben, wenn es sich um Veräußerungsgeschäfte handelt, bei denen der Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung nicht mehr als sechs Monate beträgt.

a) Das Einhalten dieser Frist ist unerläßliche Voraussetzung des gesetzlichen Besteuerungstatbestands. Dessen Verwirklichung (§ 38 der Abgabenordnung - AO 1977 -) setzt zunächst für jeden einzelnen steuerbaren Vorgang Nämlichkeit des angeschafften und des veräußerten Wirtschaftsguts voraus (vgl. u. a. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 29. März 1989 X R 4/84, BFHE 156, 465, 466, BStBl II 1989, 652; Schmidt/Heinicke, Einkommensteuergesetz, 12. Aufl., 1993, § 23 Anm. 4 c, jeweils m. w. N.). Nur bezogen auf ein und dasselbe Objekt lassen sich Spekulationsfrist und Wertveränderung im Privatvermögen (§ 23 Abs. 3 und Abs. 4 EStG) festlegen.

aa) Keine Ausnahme von diesem Identitätsgrundsatz behandelt das BFH-Urteil vom 19. Juli 1983 VIII R 161/82 (BFHE 139, 251, BStBl II 1984, 26), indem es für den Fall, daß ein unbebautes Grundstück zwischen der Anschaffung und der Veräußerung eines Grundstücksteils parzelliert worden war, auf die tatsächlichen Verhältnisse abstellte und Teilidentität annahm.

bb) Eine weitere (rechtliche) Besonderheit ergibt sich für Wertpapiere, die - wie hier - einem Sammeldepot angehören: Es handelt sich um Wirtschaftsgüter, die der Verwahrer ungetrennt von eigenen Beständen und von solchen Dritter aufbewahren (oder zur Sammelverwahrung weitergeben) darf (§ 5 Abs. 1 Satz 1 des Depotgesetzes - DepotG - i. d. F. vom 17. Juli 1985, BGBl I 1985, 1507) und die demgemäß für den Anleger eine nur der Art und dem Wert nach bestimmbare (Teil-)Rechtszuständigkeit (Bruchteilseigentum in Höhe des jeweiligen Wertpapiernennbetrags bzw. der Stückzahl, § 6 Abs. 1 DepotG) begründen können (vgl. insoweit auch BFH-Urteil vom 15. Februar 1966 I 95/63, BFHE 85, 171, BStBl III 1966, 274). Damit ist, weil weder § 39 AO 1977 noch das EStG eine abweichende Zurechnungsregelung enthält, zugleich festgelegt, was in derartigen Fällen unter Änderung der Rechtszuständigkeit zu verstehen ist. Auch im Rahmen des § 23 Abs. 1 Nr. 1 b EStG können Anschaffung und Veräußerung von Wertpapieren, die in Sammelverwahrung genommen sind, immer nur auf den ideellen Anteil an solchen Wirtschaftsgütern bezogen werden mit der Folge, daß dem Identitätserfordernis genügt ist, wenn es sich der Art und der Stückzahl nach um dieselben Wertpapiere handelt.

b) Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 3 AO, Tz. 25 ff. m. w. N.) verlangt für die Anwendung des § 23 EStG auf Wertpapiergeschäfte, die ein Sammeldepot betreffen, daß nur solche Vorgänge erfaßt werden, bei denen der Art und der Stückzahl nach feststeht, daß Anschaffung und Veräußerung innerhalb des Sechsmonatszeitraums stattgefunden haben.

aa) Auch Wortsinn, Systematik und Zweck des Gesetzes verbieten es, die Einhaltung der gesetzlichen Fristen in § 23 EStG zu fingieren. Nichts anderes aber bedeutet letztlich in diesem Zusammenhang die Anwendung der "Lifo-Methode". Ihre Anwendung findet in § 23 EStG keine gesetzliche Grundlage (Umkehrschluß aus § 6 Abs. 1 Nr. 2 a EStG i. d. F. des Steuerreformgesetzes 1990; dazu BTDrucks 11/2157 S. 140; Schmidt/Glanegger, a. a. O., § 6 Anm. 16 c, 68 und 85). Sie eignet sich zudem nur zur Lösung von Problemen der Bewertung. Selbst in diesem Bereich ist sie - wie § 6 Abs. 1 Nr. 2 a EStG ausdrücklich bestätigt - nur im Rahmen der Gewinnermittlung nach § 5 EStG hinnehmbar, weil die mit ihrer Anwendung verbundenen Ungenauigkeiten lediglich Gewinnverlagerungen zur Folge haben, die sich im Laufe der Zeit ausgleichen. Für die punktuelle, auf singuläre Ereignisse bezogene "besondere" Gewinnermittlung nach § 23 Abs. 4 EStG eignet sie sich nicht (im Ergebnis ebenso: Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 23 EStG Anm. 125; Blümich/Glenk, Einkommensteuergesetz, § 23 Anm. 100; Kamprad, Finanz-Rundschau - FR - 1971, 19 f.; Skibbe, FR 1974, 461, 466; anderer Meinung: Finanzverwaltung, Betriebs-Berater - BB - 1970, 1202 und 1972, 123).

bb) Ein Fall, in dem ausnahmsweise die Verwirklichung eines Tatbestands (teilweise) unterstellt werden darf, weil der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflichten verletzt hat (Urteil des erkennenden Senats vom 15. Februar 1989 X R 16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462; Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., 1993, § 76 Rz. 28, § 96 Rz. 9; Tipke/Kruse, a. a. O., § 88 AO Tz. 8 ff. und § 162 Tz. 2 a, jeweils m. w. N.), liegt nicht vor: Der Kläger ist nicht etwa aufgefordert worden, die Wertpapiere genauer zu bezeichnen. Im übrigen wäre eine solche Aufforderung, weil auf tatsächlich und rechtlich Unmögliches zielend (s. oben unter 1 a, bb), unbeachtlich. - Der Hinweis der Finanzverwaltung auf die Selbst- und Streifbandverwahrung (BB 1972, 123) verfehlt das Problem: Er betrifft eine andere Art der Anlage und besagt nichts über die Rechts- und Pflichtenlage bei der im Streitfall gewählten Kapitalnutzung. Daß der Kläger eine der Finanzverwaltung weniger genehme Anlage- und Verwahrungsentscheidung getroffen hat, kann nicht als Verletzung steuerlicher Mitwirkungspflichten gewertet werden.

2) Der Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung gebietet im Anwendungsbereich des § 23 EStG eine zeitliche Zuordnung von Anschaffungs- und Veräußerungsgeschäften, die nicht nur von (nachträglichen) Willensakten der Finanzverwaltung, sondern auch von solchen des Steuerpflichtigen unabhängig ist. Für die Annahme eines "Wahlrechts" fehlt die gesetzliche Grundlage. Die vom Kläger befürwortete Fifo-Methode eignet sich (unabhängig davon, für wen sie im Einzelfall vorteilhaft wäre) ebensowenig wie die von der Finanzverwaltung bevorzugte Lifo-Methode.

3) Beide Bewertungsmethoden erweisen sich bei genauerer Betrachtung selbst für Zwecke der Beweiserleichterung als untauglich: Es gibt nämlich - bezogen auf vergleichbare Fälle der Einzelverwahrung - keinen Erfahrungssatz, demzufolge Wertpapiere (überwiegend) nach einer feststehenden zeitlichen Regel angeschafft und veräußert werden; das richtet sich nach der Einschätzung von Kursentwicklungen und individuellen Bedürfnissen und bei Verkäufen nicht etwa nach dem Alter der Bestände. Daher läßt sich auch die Höhe eines Spekulationsgewinns gemäß § 23 Abs. 4 EStG bei Depotgeschäften weder nach der Lifo- noch nach der Fifo-Methode, sondern nur mit Hilfe von Durchschnittswerten ermitteln.

4) Aus alledem ergibt sich, beispielhaft verdeutlicht, folgendes:

Angenommen, es befinden sich in einem privaten Depot am 31. Dezember 1990 100 X-Papiere zum Anschaffungspreis von je 100 DM und es werden von der gleichen Sorte hinzuerworben:

 

zum 1. Januar 1991

40 Stück à 90 DM,

zum 1. Februar 1991

30 Stück à 100 DM,

zum 1. März 1991

30 Stück à 110 DM

dann bedeutet die Veräußerung von 150 Stück X-Papieren aus diesem Depot am 1. Juli 1991, daß nur für 50 Stück (150 . . 100 aus dem "Altbestand") Tatbestandsverwirklichung feststeht, weil nur für sie ausgeschlossen werden kann, daß sie außerhalb der Spekulationsfrist angeschafft wurden. Der Spekulationsgewinn hieraus errechnet sich wie folgt:

 

Anschaffungskosten insgesamt: 9.900 DM;

 

durchschnittlicher Stückpreis: 99 DM.

 

Erlös insgesamt: 22.500 DM; pro Stück: 150 DM.

 

Überschuß pro Stück (150 ./. 99 DM: 51 DM.

 

Spekulationsgewinn: 50 x 51 DM = 2.550 DM.

 

Wurden - bei sonst gleicher Fallgestaltung - nur 100 Stück veräußert, entfällt die Besteuerung, weil nicht auszuschließen ist, daß es sich um außerhalb der Sechsmonatsfrist angeschaffte Wertpapiere handelt.

5) Da das FG die Daten zu den streitigen Erwerbs- und Veräußerungsvorgängen nicht im einzelnen festgestellt und von einer Beurteilung der vom Kläger angewandten Fifo-Methode abgesehen hat, ist der Senat außerstande, selbst zu entscheiden. Trotz der Begrenzung des Entscheidungsspielraums durch Klage- und Revisionsbegehren sowie durch das Verbot der Schlechterstellung ist es denkbar, daß die Anwendung der zuvor entwickelten Grundsätze auf den Streitfall zu einer Erhöhung der nach dem FG-Urteil festzusetzenden Steuerschuld führt.

II. Bei der Entscheidung im zweiten Rechtsgang wird das FG die seit 1. Januar 1993 geltenden Grundsätze der Betragsfestsetzung durch das Gericht zu beachten haben, ebenso die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise hiervon abgesehen werden kann (§ 100 Abs. 2 FGO n. F.; dazu: Gräber, a. a. O., § 100 Rz. 24 ff.; zur zeitlichen Geltung: Rz. 2).