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BFH-Urteil vom 26.3.1993 (III R 9/92) BStBl. 1993 II S. 749

Aufwendungen, die Eltern für den Erwerb der Fahrerlaubnis ihrer schwer steh- und gehbehinderten Tochter tragen, sind als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen. Sie können neben dem Pauschbetrag für Körperbehinderte (§ 33 b EStG) abgezogen werden.

EStG §§ 33, 33 b.

Vorinstanz: FG Düsseldorf (EFG 1992, 398)

Sachverhalt

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute. Sie haben drei Kinder, von denen die im Streitjahr 1984 18 Jahre alte Tochter R außergewöhnlich stark gehbehindert ist und sich außerhalb des Hauses nicht ohne fremde Hilfe fortbewegen kann.

In ihrer Einkommensteuererklärung machten die Kläger neben dem Pauschbetrag für Körperbehinderte für die Tochter R Aufwendungen in Höhe von 4.135,90 DM für den Erwerb ihres Führerscheins geltend. Die Tochter hatte die hierfür notwendigen Kenntnisse in einer auf Behindertenausbildung spezialisierten Fahrschule in B erworben, wo sie während der Ausbildungszeit auch untergebracht war. Die Kosten setzen sich wie folgt zusammen:

Grundgebühr

295,00 DM

Fahrstunden  a) 45 à 42,00 DM

1.890,00 DM

                      b)  3  à 60,00 DM

180,00 DM

Vorstellung zur Prüfung

130,00 DM

Vorstellung zum Gutachten

90,00 DM

Lehrmaterial

90,00 DM

Versicherung

50,00 DM

TÜV-Gebühren

210,90 DM

Unterbringungskosten

1.200,00 DM

 

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4.135,90 DM.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) lehnte bei der Veranlagung den Abzug der Führerscheinkosten neben dem Pauschbetrag für Körperbehinderte nach § 33 b des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab. Im Einspruchsverfahren erkannte das FA die Unterbringungskosten in Höhe von 1.200 DM als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG an.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1992, 398 veröffentlichten Gründen statt. Es ging davon aus, daß die Kosten für den Führerschein zu den Kfz-Kosten zu rechnen seien, die nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) und der Auffassung der Finanzverwaltung bei Behinderten, die sich außerhalb des Hauses nicht ohne Kfz fortbewegen können, neben dem Behindertenpauschbetrag nach § 33 b EStG abzugsfähig sind.

Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.

Es führt im wesentlichen aus, den strittigen Aufwendungen fehle das für die Berücksichtigung als außergewöhnliche Belastung notwendige Merkmal der Außergewöhnlichkeit. Heutzutage - wie auch im Streitjahr 1984 - nehme eine ganz überwiegende Mehrzahl der 18- bis 20jährigen Fahrunterricht zur Vorbereitung auf die Führerscheinprüfung, nicht nur in Fällen wie dem vorliegenden. Unter Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung wie auch einer spezifisch an soziologischen Gesichtspunkten orientierten Betrachtungsweise sei davon auszugehen, daß die Kläger die mit dem Erwerb des Führerscheins zusammenhängenden Kosten auch dann getragen hätten, wenn die Tochter nicht körperbehindert gewesen wäre. Als außergewöhnlich seien allenfalls die Mehrkosten einzustufen, die bei behinderten Fahrschülern wegen eines durch die Behinderung bedingten Mehrbedarfs an praktischen Übungsstunden anfielen. Das seien im Streitfall höchstens 1.613,90 DM. Äußerst zweifelhaft sei auch, ob die Kosten für den Erwerb des Führerscheins den Kfz-Kosten i. S. der in Abschn. 194 Abs. 7 der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) zusammengefaßten, aus höchstrichterlichen Entscheidungen gewonnenen Verwaltungsauffassung zuzuordnen seien.

Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Während des Revisionsverfahrens hat das FA den angefochtenen Einkommensteuerbescheid geändert.

Die Kläger haben den gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens gemacht (§ 68 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Das FG ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, daß die hier streitigen Aufwendungen eine außergewöhnliche Belastung i. S. des § 33 EStG darstellen.

Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen. Die Aufwendungen entstehen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Handelt es sich bei den Aufwendungen um Kosten für den Unterhalt und die Ausbildung von Kindern, setzt die Gewährung einer Steuerermäßigung nach § 33 EStG voraus, daß die Anwendung des § 33 EStG nicht nach § 33 a Abs. 5 EStG ausgeschlossen ist. Davon ist auszugehen, wenn einem Steuerpflichtigen durch außergewöhnliche Umstände zusätzliche, durch die Pauschalregelung nicht abgegoltene, besondere Aufwendungen erwachsen. Das kann insbesondere bei Krankheitskosten der Fall sein (vgl. BFH-Urteile vom 11. Juli 1990 III R 111/86, BFHE 162, 231, BStBl II 1991, 62; vom 26. Juni 1992 III R 83/91, BFHE 169, 43, BStBl II 1993, 212).

Zu den Krankheitskosten sind die Aufwendungen zu rechnen, die ausschließlich zum Zwecke der Heilung einer Krankheit getätigt werden oder den Zweck verfolgen, eine Krankheit oder Behinderung - in der Person des Kranken - zu lindern und erträglich zu machen (vgl. BFH-Urteile vom 9. August 1991 III R 54/90, BFHE 165, 272, BStBl II 1991, 920, und vom 13. Februar 1987 III R 208/81, BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427, m. w. N.).

Zu den hiernach zu berücksichtigenden Kosten können bei schwerbehinderten Personen, die so geh- und stehbehindert sind, daß sie sich außerhalb des Hauses nur mit Hilfe eines Fahrzeugs fortbewegen können, auch die Aufwendungen für den Erwerb einer Fahrerlaubnis gehören. Denn auslösendes Moment für die Entstehung dieser Kosten ist die Gehbehinderung. Stark gehbehinderte Personen - wie die Tochter der Kläger - gehören zu der recht kleinen Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung nicht frei über die Benutzung eines Kfz entscheiden und deshalb nicht auf öffentliche Verkehrsmittel ausweichen können. Aus diesem Grunde erkennen Rechtsprechung und Verwaltung bei diesem Personenkreis die Berücksichtigung von Fahrtkosten mit einem PKW auch für Privatfahrten in angemessenem Rahmen als außergewöhnliche Belastung an (BFH-Urteile vom 15. November 1991 III R 30/88, BFHE 166, 159, BStBl II 1992, 179, und vom 2. Oktober 1992 III R 63/91, BFHE 169, 427, BStBl II 1993, 286). Aus demselben Grunde sind diese Personen auf eine Fahrerlaubnis zum Führen eines Fahrzeugs dringend angewiesen und anders als der überwiegende Teil der (meist jugendlichen) Führerscheinerwerber gerade nicht frei in ihrem Entschluß, die entsprechende Fahrprüfung abzulegen.

Es kann im Streitfall dahinstehen, ob die Kläger aus rechtlichen Gründen oder aufgrund einer tatsächlichen Zwangslage gehalten waren, die Kosten für den Erwerb des Führerscheins zu tragen; denn jedenfalls erforderten sittliche Gründe die Übernahme der Aufwendungen. Die Kläger hatten keine Möglichkeit, sich anders zu verhalten.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist eine die Zwangsläufigkeit gemäß § 33 Abs. 2 EStG begründende sittliche Pflicht zu bejahen, wenn diese so unabwendbar auftritt, daß sie ähnlich einer Rechtspflicht von außen her als eine Forderung oder zumindest Erwartung der Gesellschaft derart auf den Steuerpflichtigen einwirkt, daß ihre Erfüllung als eine selbstverständliche Handlung erwartet und die Mißachtung dieser Erwartung als moralisch anstößig angesehen wird (vgl. Urteile vom 24. Juli 1987 III R 208/82, BFHE 150, 351, BStBl II 1987, 715; vom 27. Oktober 1989 III R 205/82, BFHE 158, 431, BStBl II 1990, 294). Davon muß hier ausgegangen werden. Dafür spricht nach Auffassung des Senats im wesentlichen das jugendliche Alter der Tochter und deren Mittellosigkeit. Aber auch die Art der Aufwendungen, die im weitesten Sinne den Krankheitskosten zuzurechnen sind, kann nicht unberücksichtigt bleiben.

Die geltend gemachten Kosten sind auch nicht durch den Pauschbetrag für Körperbehinderte abgegolten, der - wie das FA unwidersprochen vorgetragen hat - den Klägern im Streitjahr wegen der Behinderung ihrer Tochter in Höhe von 7.200 DM gewährt worden ist (§ 33 b Abs. 5 EStG).

Neben dem Körperbehinderten-Pauschbetrag nach § 33 b EStG, der als Vereinfachungsregelung einer Abgeltung laufender und typischer unmittelbar mit der Behinderung zusammenhängender Kosten als außergewöhnliche Belastung ohne Einzelnachweis dient (vgl. BFH-Urteile vom 28. Februar 1968 VI R 192/67, BFHE 92, 3, BStBl II 1968, 437; vom 30. November 1966 VI 313/64, BFHE 88, 407, BStBl III 1967, 457), hat der BFH in ständiger Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen gewisse mit der Körperbehinderung zusammenhängende Aufwendungen nach § 33 EStG zum Abzug zugelassen. Dazu gehören die oben erwähnten Kfz-Aufwendungen Schwerkörperbehinderter, die in ihrer Geh- und Stehfähigkeit erheblich beeinträchtigt sind, sowie außerordentliche Kosten, die sich infolge ihrer Einmaligkeit der Typisierung des § 33 b EStG entziehen, wie z. B. Kosten einer Operation (Urteil in BFHE 88, 407, BStBl III 1967, 457) oder Aufwendungen für eine Heilkur (BFH-Urteil vom 11. Dezember 1987 III R 95/85, BFHE 152, 131, BStBl II 1988, 275).

Um solche außerordentlichen Ausgaben handelt es sich bei den Führerscheinkosten. Dies ergibt sich schon daraus, daß der Erwerb des Führerscheins in der Regel ein einmaliger Vorgang ist. Aber auch die Nähe dieser Kosten zu den Kfz-Kosten, die als laufende und typische Aufwendungen eines geh- und stehbehinderten Körperbehinderten gesondert als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG zu berücksichtigen sind, spricht für deren Abzugsfähigkeit neben dem Pauschbetrag.